Lehre, welche die große Königin der Engel der ehrw. Maria von Agreda bezüglich des Zerfalles der Kirche und des Klerus gegeben hat.

 

240. Meine Tochter, die Lehre, welche ich dir zu diesem Hauptstück gebe, be­steht darin, dass ich dich ermahne und dir befehle, mit tiefen Seufzern, mit blu­tigen Zähren, falls sie dir zu Gebote ste­hen, und in der Bitterkeit deiner Seele darüber zu weinen, dass die heilige Kirche zu gegenwärtiger Zeit in so ganz an­derem Zustande sich befindet, als sie sich bei ihrem Beginne befunden hat. O wie ist doch verdunkelt das reinste Gold der Heiligkeit, wie ist verändert die gesunde Farbe! (Klagel. 4, 1). Die alte Schönheit, in welcher die Apostel die Kirche ge­gründet haben, ist verloren, und dafür sucht man nun unechte Farben und trü­gerische Schminke, um die Hässlichkeit und Schmach der Laster, welche sie in unseliger Weise entstellen und mit furcht­barem Greuel erfüllen, zu bedecken. Willst du diese Wahrheit in ihrer ersten Ursache und in ihrem tiefsten Grunde erkennen, so musst du dich an das erinnern, was dir früher schon im himmlischen Lichte ge­zeigt worden ist, nämlich an den gewal­tigen Drang, mit welchem die Gottheit ihre Güte und Vollkommenheiten den Ge­schöpfen mitzuteilen geneigt ist. So heftig ist der Drang des höchsten Gutes, sich in die Seelen zu ergiessen, dass bloss der menschliche Wille, welcher vermöge der ihm verliehenen Wahlfreiheit den Strom der Gottheit aufnehmen sollte, ihn aufzu­halten imstande ist. Und wenn der Mensch aufgrund seines freien Willens dem Drange und den Gnadeneinflüssen der un­endlichen Güte widersteht, so tut er, menschlich gesprochen, der unendlichen Güte Gottes und seiner freigebigsten Liebe gleichsam Gewalt an und betrübt sie. Würden dagegen die Geschöpfe die unendliche Güte Gottes nicht aufhalten, würden sie dieselbe in ihrer ganzen Kraft wirken las­sen, dann würde der Strom der Gottheit sich in alle Seelen ergiessen und dieselben in höchster Fülle teilhaftig machen der Natur und der Vollkommenheiten Gottes. (2. Petr. 1, 4). Der Herr würde erheben aus dem Staube die Gefallenen und bereichern die armen Kinder Adams; er würde aus ihrem Elende sie erlösen und sie setzen ne­ben die Fürsten seines himmlischen Rei­ches. (1. Kön. 2, 8).

 

241. Hieraus wirst du, meine Tochter, zwei Dinge lernen, welche der menschli­chen Weisheit verborgen sind. Fürs erste wirst du einsehen, welch grosses Wohlge­fallen und welch grosse Freude dem höch­sten Gute jene Seelen bereiten, welche, mit glühendem Eifer für Gottes Ehre be­seelt, durch ihre Anstrengungen und ihre Wachsamkeit ihm gleichsam helfen, aus anderen Seelen die Hindernisse zu besei­tigen, die sie durch ihre Sünden dem Wir­ken Gottes entgegengesetzt haben; denn diese Sünden sind es, welche den Herrn hindern, die Seelen zu rechtfertigen und ihnen die zahllosen Güter mitzuteilen, wie sie dieselben von der unermesslichen Güte Gottes zu empfangen fähig sind, und wie der Allerhöchste sie ihnen verleihen will. Das Wohlgefallen, das Gott empfindet, wenn man ihm in diesem Werke hilft, ist so gross, dass es in diesem sterblichen Leben nicht begriffen werden kann. Aus diesem Grunde ist es etwas so Grosses und Erhabenes um den Dienst der Apo­stel, der Bischöfe, der Priester und aller Verkündiger des göttlichen Wortes, wel­che vermöge ihres Amtes die Nachfolger der Gründer der Kirche sind und durch ihr Bemühen zur Erweiterung und Erhal­tung der Kirche beitragen: sie alle müssen ja Mitarbeiter und Werkzeuge der uner­messlichen Liebe sein, welche Gott zu den Seelen trägt, zu den Seelen, die er er­schaffen hat, damit sie seiner Gottheit teil­haftig werden. Das zweite, was du beher­zigen sollst, ist die Grösse und der Ueber­reichtum der Gaben und Gnaden, welche Gottes unbegrenzte Macht jenen Seelen mitteilen wird, welche seiner Macht kein Hindernis entgegensetzen. Diese Wahrheit offenbarte der Herr schon im Beginne sei­ner heiligen Kirche, indem er den Gläu­bigen, welche in dieselbe eintraten, sich in so vielen Wundern zu erkennen gab, seinen Heiligen Geist so oft sichtbar auf dieselben herabkommen liess, denselben die Macht verlieh, mit Hilfe des Credo z. B. selbst Wunder zu wirken, nebst vie­len anderen Wohltaten, die sie aus der Hand des Allerhöchsten empfingen.

 

242. Am meisten erglänzte die Güte und Allmacht Gottes in den Aposteln und Jüngern. Der Grund war, weil sie dem ewigen und heiligen Willen Gottes keine Hindernisse entgegensetzten: sie waren in der Tat Werkzeuge und Gehilfen der gött­lichen Liebe, sie waren echte Nachahmer Jesu Christi und folgten seiner Wahrheit. Dies war der Grund, warum sie zu einer so erhabenen Teilnahme an den Vollkom­menheiten Gottes gelangten, besonders an seiner Wissenschaft, Heiligkeit und Macht, und warum sie zu ihrem eigenen From­men sowie zum Heile fremder Seelen Wunder wirkten, welche die Sterblichen nie genugsam preisen können. Von den Aposteln an wurde diese göttliche Weis­heit mit ihren Wirkungen auf andere Söhne der Kirche von Geschlecht zu Ge­schlecht fortgepflanzt und übertragen. Ich will hier nicht von den unzähligen Mär­tyrern sprechen, welche Blut und Leben für den heiligen Glauben hingeopfert ha­ben. Aber betrachte die Stifter der geist­lichen Orden, die grossen Heiligen, welche in diesen letzteren geblüht, die Kirchen­lehrer, Bischöfe, Prälaten und apostoli­schen Männer, in welchen Gottes Güte und Allmacht sich deutlich geoffenbart haben! Es können sich daher die übrigen Priester und Seelenhirten und überhaupt alle Gläubigen nicht entschuldigen, wenn Gott in ihnen die Wunder und Gnaden nicht wirkt, die er in den ersten Gläubi­gen gewirkt hat und die er fortwährend noch wirkt in allen, welche er hiezu taug­lich findet!

 

243. Damit die Beschämung aller un­würdigen Diener der heiligen Kirche, wel­che heutigentages leben, um so grösser sei, so höre: Als der Allerhöchste den ewi­gen Ratschluss fasste, seine unendlichen Gnadenschätze den Seelen mitzuteilen, hat er eben diese Gnaden an erster Stelle und unmittelbar den Kirchenvorstehern, Prie­stern, Predigern und allen Verwaltern des göttlichen Wortes zuzuwenden gedacht. Denn es war sein Wille, dass sie alle, so­weit es von ihm abhänge, an Heiligkeit und Vollkommenheit mehr Engeln als Men­schen gleichen sollten: Er wollte, dass sie vor allen anderen Erdenpilgern zahlreicher Vorrechte und Auszeichnungen der Natur und Gnade sich erfreuten, damit sie, ge­stärkt durch so ausserordentliche Gnaden, taugliche Diener des Allerhöchsten wür­den, was sicher geschähe, wenn sie die Ordnung der unendlichen Weisheit Gottes nicht verkehren, sondern der Würde, zu welcher sie aus allen anderen berufen und auserwählt sind, entsprechen wollten. Diese unermessliche Güte Gottes ist aber heutzutage dieselbe wie in den Anfangs­zeiten der Kirche; der Drang des höchsten Gutes, die Seelen zu bereichern, hat sich nicht verändert: er kann sich gar nicht verändern; die Freigebigkeit und Güte Gottes hat nicht abgenommen; die Liebe, die er zu seiner Kirche trägt, ist allezeit unendlich gross; er, die Barmherzigkeit selbst, hat sein Auge dahin gerichtet, wo Elend ist, und solches gibt es heutzutage in massloser Fülle; das Geschrei der Schäflein Christi ertönt so laut, als es nur möglich ist; der Prälaten, Priester und Kirchendiener gibt es so viele wie nie zu­vor. Wenn nun all dies sich so verhält, wem ist dann der Untergang so vieler See­len und der jammervolle Zustand des christlichen Volkes zuzuschreiben? Wem ist es dann zuzuschreiben, dass die Un­gläubigen heutigentags sich nicht der heiligen Kirche anschliessen, sondern sie bedrücken und mit Trauer erfüllen? Wie kommt es, dass die Prälaten und Diener der Kirche nicht mehr im Glanze der Heiligkeit dastehen und dass Jesus Chri­stus nicht mehr in ihnen verherrlicht wird, wie dies in den vergangenen Jahrhunder­ten, zumal in den ersten Zeiten der Kirche, der Fall war?

 

244. O meine Tochter! ich lade dich ein, über ein solches Elend deinen Klage­ruf zu erheben. Schau, wie die Steine des Heiligtumes zerstreut liegen an den Stras­senecken der Städte! (Klagel. 4, 1). Siehe, wie die Priester des Herrn sich gleichge­macht haben dem Volke, (Is. 24, 2.), wäh­rend sie doch das Volk heilig und sich ähnlich machen sollten! Die Würde der Priester und ihr reicher, kostbarer Tu­gendschmuck sind beschmutzt durch den ansteckenden Umgang mit den Weltleu­ten. Die Gesalbten des Herrn, die doch geweiht sind, um nur mit dem Herrn zu verkehren und um ihm zu dienen, sie sind freiwillig herabgesunken vom Adel ihrer Gottähnlichkeit und haben ihren Glanz verloren, weil sie sich herabgewürdigt ha­ben zu einer gemeinen Handlungsweise, welche ihrer ausgezeichneten Stellung unter den Menschen unwürdig ist. Sie ergeben sich der Eitelkeit, folgen dem Geize und der Habsucht, dienen dem eigenen Interesse, lieben das Geld, setzen ihre Hoffnung auf Schätze von Gold und Silber; sie lassen sich herab, den Weltleuten, den Mächti­gen, ja, was noch schlimmer ist, selbst verächtlichen Frauenspersonen zu schmei­cheln und zu Gefallen zu handeln; es kommt zuweilen sogar vor, dass sie an den Versammlungen und dem Rate der Bösen teilnehmen. Kaum ist noch ein Schäflein in der Hürde Christi, das die Stimme seines Hirten in ihnen erkennt und das bei ihnen die gesunde Nahrung und Weise der Tugend und Heiligkeit findet, deren Lehrmeister sie sein sollten. Die Kindlein bitten um Brot, und niemand ist, der es ihnen bricht. (Klagel. 4, 4). Und wenn es auch noch gereicht wird, so ge­schieht es um des zeitlichen Vorteiles wil­len, oder weil es eben sein muss. Wie wird aber eine mit Aussatz bedeckte Hand dem Armen und Kranken gesunde Nahrung bieten können? Wie soll der höchste Arzt der Seelen einer solchen Hand die Arznei anvertrauen, von welcher das Leben ab­hängt? Wenn diejenigen, welche die Mitt­ler und Fürsprecher der übrigen sein soll­ten, mit grösseren Sünden beladen sind als diese, wie werden sie dann Barmher­zigkeit herabziehen auf jene, welche ge­ringerer oder höchstens gleicher Sünden schuldig sind?

 

245. Dies sind die Ursachen, warum die Prälaten und Priester in gegenwärtiger Zeit nicht mehr die Wunder wirken, welche die Apostel und Jünger des Herrn beim Entstehen der Kirche gewirkt haben und welche so viele andere Seelenhirten wirkten, die, von glühendem Eifer für Gottes Ehre und für die Bekehrung der Seelen entflammt, das Leben der Apostel nach­geahmt haben. Das sind die Ursachen, warum die der Kirche anvertrauten Schätze des Leidens und Sterbens Jesu Christi we­der in den Priestern und Kirchendienern noch in den übrigen Sterblichen Frucht bringen. Denn wenn die Priester diese Schätze verachten und nicht daran den­ken, sie für sich nutzbar zu machen, wie werden sie dieselben an die übrigen Kin­der der Familie Christi austeilen? Das sind die Ursachen, warum sich gegenwärtig nicht mehr wie ehedem die Ungläubigen zur Erkenntnis des wahren Glaubens be­kehren, obgleich sie unter den Augen der Kirchenfürsten, Kirchendiener und Ver­kündiger des Evangeliums leben. Die Kir­che ist heutzutage mehr als je bereichert mit zeitlichen Gütern, Einkünften und Be­sitztümern; sie hat Ueberfluss an gelehr­ten Männern, welche sich reiche Wissen­schaft erworben haben, Ueberfluss an ho­hen Prälaturen und einträglichen Stellen. Und da man alle diese Güter dem Blute Jesu Christi zu verdanken hat, so sollte man auch alles nach dem Willen und Wohlgefallen des Herrn verwenden, d. h. man sollte es verwenden zur Bekehrung der Seelen, zur Unterstützung der Armen Christi, zur Unterhaltung des Kultus und zur Verherrlichung des heiligsten Namens Jesu Christi.

 

246. Ob dies geschieht, das mögen die Gefangenen sagen, welche mit den Ein­künften der Kirchen aus der Sklaverei los­gekauft wurden; die Ungläubigen mögen es sagen, welche bekehrt, und die Ketze­reien, welche ausgerottet werden; sie mö­gen sagen, welche Summen aus den Kirchengütern für fromme Zwecke veraus­gabt werden. Ja, sagen werden es die Pa­läste, welche vom Gute der Kirche erbaut, die Majorate, welche damit gestiftet, die prächtigen Landhäuser, welche damit her­gestellt sind, und, was noch trauriger ist, sagen werden es die profanen und schänd­lichen Ausgaben derjenigen, welche, den obersten Hohepriester Jesum Christum ent­ehrend, von der Nachfolge des Herrn und ihrer eigenen Amtsvorgänger, der Apostel, ebensoweit entfernt sind, als die verkom­mensten Weltleute dem Herrn ferneste­hen. Und wenn die Predigt derjenigen, die das Wort Gottes verwalten, tot, kraftlos und unfähig ist, die Zuhörer zu beleben, so liegt die Schuld nicht an der Wahrheit und Lehre der Heiligen Schrift, sondern an dem schlechten Gebrauche, welchen die Prediger davon machen, indem sie sich von verkehrten Absichten leiten lassen. Sie verfehlen den Zweck der Predigt und vertauschen die Ehre Jesu Christi mit ih­rer eigenen Ehre und eitlen Hochschät­zung, den geistlichen Nutzen mit dem schnöden zeitlichen Gewinn; und haben sie diese ihre beiden Zwecke erreicht, dann kümmern sie sich um keine weitere Frucht ihrer Predigt. Sie nehmen darum auch der gesunden und heiligen Lehre die Lauterkeit und Reinheit (manchmal auch die Wahrheit), mit welcher die hl. Ver­fasser sie geschrieben und die heiligen Kirchenlehrer sie ausgelegt haben. Was sie sagen, das sind nur Spitzfindigkeiten und Erfindungen ihres eigenen Geistes, welche in den Zuhörern mehr Bewunderung und Beifall erregen, als dass sie ihnen Nutzen bringen. Gelangt aber das Wort Gottes an die Ohren der Sünder in einer so entstell­ten Form, so erkennen sie in der Lehre nicht so sehr die Liebe Christi als viel­mehr den Geist des Predigers; und dann hat die Predigt nicht die Kraft und Wirk­samkeit, in die Herzen einzudringen, mag sie auch noch so künstlich ausgearbeitet und darauf ausgelegt sein, die Ohren zu erfreuen.

 

247. Wundere dich daher nicht, gelieb­teste Tochter, dass die göttliche Gerech­tigkeit zur Strafe für diese Eitelkeiten und Missbräuche und andere Missstände, wel­che die Welt gar wohl kennt, die Prälaten, die Priester und die Verkündiger des gött­lichen Wortes so ohne Hilfe lässt und dass die Kirche, die in ihren Anfängen so erhaben dastand, nunmehr so tief darnie­derliegt. Es ist in der Tat noch eine grosse Gnade Jesu Christi für seine Kirche, dass es in dieser Zeit, in welcher er so sehr von allen verlassen und verachtet ist, noch einige Priester gibt, die von diesen bekla­genswerten Lastern frei sind. Gegen diese Guten ist der Herr sehr freigebig; allein ihre Zahl ist sehr klein, wie der Ruin des christlichen Volkes und die Verachtung bekunden, in welche der Stand der Prie­ster und der Verkündiger des Wortes Got­tes gesunken ist. Denn wenn die heiligen und seeleneifrigen Priester zahlreich wä­ren, so würden sich die Sünder ganz ge­wiss bekehren und bessern, viele Ungläu­bige würden sich zum Glauben wenden, man würde allgemein die Prälaten, Prie­ster und Prediger mit Ehrfurcht ansehen und hören und sie wegen ihrer Würde und Heiligkeit ehren und achten, nicht aber bloss wegen des äusseren Ansehens und Prunkes, wodurch sie sich Achtung verschaffen, aber eine Achtung, die eigent­lich nichts anderes ist als nutzloser, welt­licher Beifall.

Sei nicht ängstlich und in Sorge dar­über, dass du dieses niedergeschrieben hast. Denn sie selbst wissen gar wohl, dass es wahr ist; und du schreibst es ja nicht nach deinem eigenen Willen, sondern auf meinen Befehl. Weine, meine Tochter, über diese Uebel und lade Himmel und Erde ein, dass sie dir klagen helfen; denn es gibt sehr wenige, die dies tun, und das ist die grösste Unbill, die der Herr von allen Kindern seiner Kirche erfährt.

 

Maria v. Agreda, Die Mystische Stadt Gottes, 3. Teil, 7. Buch, 13. Hauptstück.